Siegfried Gross

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Siegfried Gross 1950

Am 20. Februar 1945 waren die letzten fünf Hildesheimer Juden, die in so genannten Mischehen lebten, in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden. Am 2. März bezog das fast ausschließlich aus jüdischen Häftlingen bestehende 'Arbeitskommando Hildesheim' des KZ Neuengamme zwei Säle der Stadthalle Hildesheim. Nur knapp zwei Wochen zuvor hatten die Nationalsozialisten ihr Ziel erreicht, Hildesheim 'judenfrei' zu machen. Mit der Ankunft der Häftlinge hatte die Zahl der Juden in der Stadt fast wieder den Stand von 1933 – 515 – erreicht. Einer von ihnen war Siegfried Gross, der zusammen mit seinem Sohn Fritz in Hildesheim ankam. Sie hatten es geschafft, in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung zusammenzubleiben und zu überleben. Neunzehn Angehörige ihrer Familie wurden in der Schoah ermordet.

Siegfried Gross, der den Taufnamen Selig erhielt, kam am 9. November 1899 in Krenau/Ost-Oberschlesien zur Welt. Der Ort gehörte zu diesem Zeitpunkt zu Österreich. Am 10. Oktober 1921 wurde er auf Beschluss des Völkerbundes Polen zugeschlagen und fortan Chrzanow genannt. Einundzwanzig Kilometer entfernt lag Auschwitz, der spätere Schicksalsort seiner Familie.

Seine Eltern, der Kaufmann Hirsch Gross und Cheika Gross, geb. Klein, handelten mit Südfrüchten. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Siegfried eine kaufmännische Lehre im Geschäft der Eltern in Mislowitz, Ring 8. Auch in Katowice, Teichstraße 5, gab es ein Geschäft seiner Eltern. Hier setzte er seine Lehre fort und besuchte daneben Abendkursen der Handelsschule ('Teich-Schule'). 1916 trat er in die Firma Skala ein, die das Kabarett Trocadero betrieb (Teichstraße 19). In dieser Zeit lernte er alles, was zur Herstellung von Spirituosen und Likören gehörte.

Anfang 1917 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Während seines Kriegseinsatzes war er unter anderem an der Isonzo-Offensive beteiligt, die für Österreich-Ungarn siegreich verlief.

1918 kehrte er nach Katowice zurück und übernahm die Vertretung der Likör-Fabrik Pahlisong & Co. in Oberschlesien. 1923 ging er als Generalvertreter für Schlesien zur Likör-Fabrik F. W. Manegold nach Berlin.

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Anzeige der Firma Manegold

Mit dem Raum und der Stadt Hildesheim kam Siegfried Gross zum ersten Mal in Berührung, als er am 31. Juli 1923 Frieda, die Tochter des Kaufmanns Max Nussbaum und seiner Frau Pauline, in Hohenhameln standesamtlich und in der Hildesheimer Synagoge rituell heiratete.

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Die Hildesheimer Synagoge am Lappenberg

Max Nussbaum war bereits 1914 gestorben und auf dem jüdischen Friedhof in Peine begraben worden. Pauline Nussbaum wurde während der Zeit des Nationalsozialismus von Beuten, Oberschlesien, nach Auschwitz verschleppt und dort vergast. Die Daten sind unbekannt. Frieda Gross, geb. am 13. Dezember 1898, starb am 5. Oktober 1944 in einer Gaskammer in Auschwitz.

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Felizia und Fritz Gross im Oktober 1948

Fritz Gross, der einzige Sohn von Frieda und Siegfried Gross, wurde am 27. Juli 1924 in Berlin geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Katowice, wo er die Grundschule sowie das Gymnasium besuchte. Nach der Verschleppung in das Ghetto Łódź setzte er dort seine Gymnasialausbildung fort, bis die Schule im Oktober 1941 geschlossen wurde. In dieser Zeit lernte er Felizia kennen, die er nach der Befreiung heiratete.

Nach dem Konkurs von Manegold kehrte Siegfried Gross nach Katowice zurück und bereiste von dort aus erneut Schlesien als Handelsvertreter für 'Pahlisong' und weitere Firmen. 1935 gründete er zusammen mit seinem Teilhaber die Firma 'Hallmann und Gross'. Mit dieser nahm er die Produktion eigener Liköre und Spirituosen auf. Noch 1935 schied der Teilhaber aus, und Gross übernahm als alleiniger Gesellschafter die Firma 'H. G.', nach 1936 als reine Handelsvertretung.

1924/1925 wohnten etwa 4.000 Juden in Katowice (6,7% von etwa 60.000 Einwohnern), 1932 stieg die Anzahl auf etwa 9.000, 1939 betrug sie mit 8.587 noch 6,3% der Gesamtbevölkerung. Nächst Frankfurt am Main soll Katowice diejenige Stadt auf deutschem Reichsgebiet gewesen sein, die den höchsten Anteil jüdischer Einwohner aufwies.

Die Lage der ehemaligen deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens war nach 1922 vierfach problematisch: Erstens waren sie in der Abstimmungszeit für Deutschland eingetreten, so dass sie sich deshalb Schikanen der polnischen Obrigkeit ausgesetzt sahen. Mit dem Machtantritt von Hitler 1933 verschärften sich die nationalen Konflikte zwischen Polen und Deutschen in Katowice in erschreckender Weise. Zweitens vertraten sie als westlich orientierte Juden ein liberales Judentum, von dem sich die aus Kongresspolen und vor allem aus Galizien einströmenden orthodoxen Ostjuden spirituell und habituell schroff absonderten. Drittens weitete sich der Antisemitismus in Polen bereits seit Beginn der 1930er-Jahre zunehmend aus, sodass es Berichten zufolge sogar zum Einsatz von Schlägertrupps und Boykottaufrufen kam. Viertens hatten sich die christlichen Deutschen nach 1933 ebenso stark dem Nationalsozialistischen Gedankengut zugewandt wie große Teile der Bevölkerung im Deutschen Reich. Anstatt sich mit den jüdischen Mitbürgern zu solidarisieren, nutzten sie vielmehr die sich bietenden wirtschaftlichen Vorteile gezielt aus.

Vor der eindringenden deutschen Wehrmacht flüchteten die Eltern mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn nach Łódź, konnten ihr dort aber nicht entkommen. Von April bis September 1939 arbeitete er als Kaufmann, dann wurden sie ins Ghetto Łódź verschleppt. Von September bis Dezember 1939 war er Sekretär der Jüdischen Gemeinde. Vom Bahnhof Radegast (Radogoszcz) wurden sie am 29. August 1944 mit dem letzten Transport nach der Auflösung des Ghettos nach Auschwitz deportiert.

Seine Frau verlor Siegfried Gross gleich nach der Ankunft aus den Augen. Als Fritz Gross nach der Befreiung Felizia wiedersah, erzählte sie ihm, dass sie bis zum letzten Augenblick mit ihrer und seiner Mutter in Auschwitz zusammen war. Die Männer kamen nach fünf Wochen gemeinsam ins Arbeitslager Kaltwasser/Niederschlesien, wurden dann aber auch getrennt.

Siegfried Gross erhielt in Auschwitz die Häftlingsnummer 1786. Sie wurde nicht, wie sonst, in den linken Unterarm tätowiert, weil der gesamte Transport ursprünglich für die sofortige Vergasung vorgesehen war. Ihr weiterer Leidensweg führte sie allerdings in das Konzentrationslager Groß-Rosen und in dessen Außenlager Kaltwasser, Schotterberg, Märzbachtal und Wüstegiersdorf. In allen Lagern wurden die Häftlinge vor allem zur Arbeit im Steinbruch, beim Stollenbau, bei Verladearbeiten, beim Straßen- und Gleisbau gezwungen. Daneben gab es technische Werkstätten von Industriebetrieben und eine Flachsgarnspinnerei. Siegfried und Fritz gelang es stets zusammenzubleiben.

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Von Auschwitz über Bergen-Belsen nach Hildesheim. Der Weg von Siegfried Gross im März/April 1945.

Im Februar 1945 wurden die zahlreichen Konzentrationslager in der Gegend um Waldenburg und Schweidnitz vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert, darunter auch am 16. Februar Wüstegiersdorf (Głuszyca).

Fünf- bis sechstausend halbverhungerte Häftlinge wurden in einem Todesmarsch bis nach Parschnitz (Poříčí) bei Trautenau (Trutnov) getrieben, annähernd 80 Kilometer durch die Ausläufer des Eulen- und Riesengebirges. Der größte Teil der entkräfteten und völlig unzulänglich gekleideten Menschen wurde am 18. Februar in das KZ Flossenbürg gebracht. Siegfried und Fritz Gross gehörten zu jenen rund 800 Häftlingen, die in offenen Güterwaggons nahezu ohne Essen (pro Person gab es nur einen Laib Brot auf dem ganzen Transport), ohne Trinken und ohne jeden Schutz vor Schnee und Regen nach Bergen-Belsen geschickt wurden. Nach sechzehn oder siebzehn Tagen erreichten etwa 500 von ihnen mehr tot als lebendig das Lager.

Das Reichsbahnbetriebsamt forderte ein Arbeitskommando an, um den Hildesheimer Güterbahnhof und die Hauptstrecke nach Dresden über Leipzig instandzusetzen, die durch den Bombenangriff am 22. Februar 1945 zerstört worden waren. Die Stadt stellte den großen und kleinen Saal im ersten Stock der Stadthalle als "Unterkunft" zur Verfügung.

Gross schätzte, dass ungefähr vierzig Prozent der Menschen unterwegs an Hunger und Kälte gestorben waren. Die Überlebenden erwarteten in Bergen-Belsen katastrophale Hygiene- und Versorgungsverhältnisse, denen von Anfang Januar bis Mitte April 1945 rund 35.000 Menschen zum Opfer fielen. Georg N., ein ungarischer Mithäftling, gab später an, er habe sich nach seiner Ankunft in Bergen-Belsen freiwillig für das Arbeitskommando in Hildesheim gemeldet, obwohl er sich auf dem Transport verletzt hatte, nur um den fürchterlichen Zuständen zu entkommen.

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Die Stadt stellt der Bahn für 500 "Konzentrations-Häftlinge" die Stadthalle zur Verfügung.

Neben 340 ungarischen Häftlingen umfasste das etwa 500 Personen starke Arbeitskommando, das formal dem KZ Neuengamme unterstellt war, auch Franzosen, Belgier, Italiener, Griechen, Polen, Russen, Jugoslawen, Rumänen sowie einige Deutsche.

Zu den 'Freiwilligen' zählten auch Siegfried und Fritz Gross. Fritz erinnert sich daran, dass er in Bergen-Belsen auch Feilizias Vater und Bruder - seinen zukünftigen Schwiegervater und Schwager- wiedertraf. "Die sahen furchtbar aus. Mein Vater hat seinen Rasierapparat genommen und hat sie erst mal rasiert." Für das Arbeitskommando hätten sie sich nicht melden können. "Ich habe gehofft, dass sie durchkommen, dass sie mit ausgewählt wurden, für die Arbeit, zu den 500 Mann, die am Abend vor dem Einsatz in eine geschlossene Baracke kamen. Wir wurden ja praktisch gekauft für die Aufräumungsarbeiten nach dem Bombardement. Aber die kamen leider nicht mehr mit, leider. Sie sind vor Hunger und Kälte drei Wochen vor der Befreiung gestorben. Der Bruder war 21, ein Jahr älter als ich. Er war mein Freund. Und der Vater war 44."

Am 2. März verließ der Transport mit 480 Personen das KZ Bergen-Belsen. Wahrscheinlich kamen aus dem KZ Neuengamme oder einem der anderen Außenlager noch 20 nicht-jüdische Funktionshäftlinge hinzu.

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Der untere und obere Saal der Stadthalle Hildesheim nach dem Bombenangriff am 22. März 1945.

Unmittelbar nach seinem Eintreffen fielen am 3. März erneut Bomben auf die Stadt, auch auf das Bahngelände nördlich der Schützenallee. Am 14. März wurden das Senkingwerk und der Rangierbahnhof bei einem Angriff zerstört. Am 22. März fiel die Innenstadt den Bomben zum Opfer.

Sigurd Prinz, der Sohn des letzten Pächters Wilhelm Prinz, erinnert sich an einen Lastwagen, der am 1. März vor der Stadthalle hielt und Stroh anlieferte, das in den Sälen zu einer von Gängen unterbrochenen Schicht von etwa 30 Zentimeter Dicke verteilt wurde. In den näch­sten Tagen seien in den Klubräumen des Erdgeschosses Feldbetten, Tische, Spinde und Öfen für die Wachmannschaft aufgestellt worden.

Für Fritz Gross "war [das] ja das Kuriose, dass wir dann als Häftlinge von Bergen-Belsen aus, nicht wissend, nach Hildesheim kamen. Das war die letzte Gruppe, die überhaupt aus Bergen-Belsen herauskam. Wir wussten ja nicht, wohin wir kommen. Wir fuhren mit dem Zug. Wir waren im Viehwagen untergebracht. Es hat etwas länger gedauert. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob wir vier oder fünf Stunden unterwegs waren. Dann hieß es plötzlich ‚Hildesheim! Alles aussteigen!‘ Das war für meinen Vater eine große Überraschung: Plötzlich standen wir in Hildesheim, da, wo mein Vater geheiratet hat."

Der zwölfstündige Arbeitseinsatz, der am Tag nach der Ankunft begann, bestand aus dem Tragen von Bohlen und dem Verlegen von Schienen. Nach Bombenangriffen verlängerten sich die Arbeitstage, wenn brennende Waggons zu entladen waren. Die Zwangsarbeiter wurden dabei brutal mit Schlägen angetrieben. Für die Bewachung und die Durchführung dieser Misshandlungen war ein etwa 40 bis 50 Mann starker Zug des Volkssturms verantwortlich, der die Häftlinge sowohl auf dem Weg zur Arbeit als auch während des Arbeitseinsatzes überwachte. Dieser war direkt dem NSDAP-Kreisleiter und damit "einer Parteiinstanz zugeordnet, die Brutalität sanktionierte und dazu aufwiegelte, wie die Anweisungen und häufigen Besuche des Kreisleiters auf dem Güterbahnhof verdeutlichen."

Siegfried Gross fand für die Gewaltausbrüche eine Erklärung: "Die Posten behandelten uns so, als ob wir verantwortlich waren für die Luftangriffe." In der Erinnerung von Fritz Gross erscheint die Hildesheimer Bevölkerung als feindseliger. "Wir wurden von der Bevölkerung in Hildesheim nicht gut behandelt. Im Gegenteil. Nach dem Bombardement musste uns der Volkssturm schützen vor den Einwohnern. Die haben morgens geschrien, wenn wir zur Arbeit gingen zum Bahnhof, 'Schlagt doch die Juden tot, die sind schuld an unserem Unglück!'"

Nach der Zerstörung der Innenstadt und damit auch der Stadthalle am 22. März mussten die überlebenden Häftlinge bis zum 25. März auf freiem Feld an der Innerste in der Nähe des Dammtors lagern.

Nach einem dreitägigen Fußmarsch erreichten die Häftlinge Ahlem bei Hannover. Bis zum 6. April mussten Fritz und Siegfried Gross bei der Zementherstellung arbeiten, auch nachts.

Fritz Gross erinnert sich an einen einwöchigen Aufenthalt und die Arbeit in einer Zementfabrik. Der Begriff 'Zementfabrik' ist irreführend: In Ahlem mussten die Häftlinge die Asphaltstollen für die unterirdische Produktion von Flugzeugreifen durch die Continental AG ausbauen. Hierfür mussten Häftlinge oberirdisch bei Tag und Nacht Zement anrühren und in die Stollen tragen. Offenbar dauerten diese Arbeiten bis zum Ende des Krieges an.

Am 8. April kamen von den ehemals 500 Gefangenen 250 bis 300 wieder in bergen Belsen an, zusammen mit tausenden Häftlingen aus dem KZ Dora-Mittelbau. Für die Häftlinge aus Hildesheim war dies bereits  die zweite Verlegung in die Nähe von Hannover. In der letzten Woche vor der Befreiung des Lagers durch die Engländer am 15. April litten über 60.000 Gefangene unter den katastrophalen Zuständen.

Für 20.000 bis 25.000 Menschen standen so viele Waschräume und Toiletten zur Verfügung wie ein Jahr zuvor für 2.000 – wenn sie denn alle funktionierten. Bauchtyphus-, Ruhr- und Fleckfieber-Epidemien verbreiteten sich schnell und forderten zahlreiche Opfer. Siegfried und Fritz Gross erkrankten an Fleckfieber. Physisch wird der 1,66 Meter große 45-jährige Siegfried Gross, aber auch sein 21-jähriger Sohn am Ende gewesen sein. Dass sie das Inferno überstanden, stellt sich dem Sohn aus heutiger Sicht als purer Zufall dar. Erst am 18. April konnten die ersten 500 Fleckfieberkranken in einem improvisierten Lazarett in der SS-Apotheke des Lagers behandelt werden. Am 21. April brachte man die ersten Patienten ins neuerrichtete Hospital in den Kasernen des Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne, wo mit Hochdruck zahlreiche Gebäude in Krankenhäuser mit 14.000 Betten umgewandelt wurden. Bis zum 8. Juli 1945 mussten Siegfried und Fritz Gross dort auf ihre Entlassung warten. Genesen waren sie auch dann noch nicht. In der Wiedergutmachungsakte wird auf eine dreimalige Gelbsuchterkrankung von Siegfried Gross 1945/1946 hingewiesen.

Wie als Ausdruck ihres Überlebenswillens und ihrer Zukunftszuversicht heirateten beide – Vater und Sohn – zehn Monate nach ihrer Befreiung, nach jüdischem Ritual unter der Chuppa, dem Trau-Baldachin, in Bergen-Hohne, in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers.

Im DP-Camp, dem Lager für Displaced Persons, hatte sich im September 1945 das Central Jewish Committee gebildet, das für alle jüdischen DPs der Britischen Zone zuständig war. Fritz heiratete dort am 22. März 1946 Felizia, Siegfried am 31. März 1946 Bronka Bernstein (auch Bornstein), geb. Wollhändler. Deren Mann war eine oder zwei Wochen nach der Befreiung gestorben. Sie arbeitete als Krankenschwester in Bergen-Belsen und lernte dort Siegfried Gross kennen. Sie hatte einen ähnlichen Leidensweg hinter sich: Sie war von Juni bis Juli 1943 in Auschwitz, bis August 1943 in Ravensbrück, bis Dezember 1943 in Mühlhausen, bis April 1944 in einem Arbeitslager bei Leipzig, schließlich bis April 1945 in Bergen-Belsen gewesen.

Vater und Sohn zog es zuerst nach Hohenhameln (15 km nördlich von Hildesheim), danach nach Hildesheim. "Wir gingen später nach Hildesheim zurück, weil wir hofften, dass vielleicht meine Mutter überlebt hat, weil wir dachten, wo könnten wir uns treffen, wenn nicht in Hildesheim. In Hohenhameln und Hildesheim war das eine bekannte Familie. Als wir nach Hildesheim kamen, hieß es, die Nußbaums sind da. Mein Onkel war in Hildesheim bei Meyerhof am Platze." Es kam aber niemand.

Siegfried Gross hat gleich nach seiner Ankunft in Hildesheim um Unterstützung für den Aufbau einer neuen Existenzgrundlage als selbständiger Kaufmann gebeten. Am 18. Juli 1945, zehn Tage nach seiner Entlassung aus dem KZ, bat die Wirtschaftskammer Hildesheim den Regierungspräsidenten, Siegfried Gross bei der Eröffnung eines Bierverlags oder eines Kaffeehauses zu unterstützen. Wahrscheinlich erhielt er dort ein Empfehlungsschreiben, ähnlich dem, das Ernst Fels am 3. Juli 1945 ausgehändigt wurde: "Der Geschäftsführer Ernst Fels ist Angehöriger der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen (Volljude) und wird hier betreut. Ich bitte, Herrn F. in jeder Hinsicht, insbesondere geschäftlicher Beziehung, weitgehend zu unterstützen und ihn bevorzugt zu behandeln und abzufertigen. i. A. H. (Helmke)" Wahrscheinlich half eine solche Bescheinigung Siegfried Gross, in der Oststadt eine Wohnung beziehen zu können. Jedenfalls steht sein Name seit dem 21. Dezember 1945 unter der laufenden Nummer 3973 und mit dem Wohnort 'Hildesheim, Goethestraße 17' im 'Verzeichnis der Genossen' des Beamten-Wohnungs-Vereins zu Hildesheim.

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Nach seiner Ankunft in Hildesheim wurde Siegfried Gross eine Wohnung des Beamten-Wohnungsvereins zugewiesen: Goethestraße 17

Unter dieser Adresse war er fortan auch als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu erreichen - sowohl für Hildesheim als auch für den ganzen Regierungsbezirk. Ein entsprechendes Hinweisschild war am Hauseingang angebracht. Wann genau er dieses Amt übernahm, ist nicht belegt. Wie es dazu kam, geht jedoch aus einem Schreiben der Regierung Hildesheim, Abt. IV K.J., vom 9. Mai 1946 an Ernst Fels, hervor. Darin widersprach der Verfasser, ein Oberregierungsdirektor H. [wahrscheinlich Helmke], dem Gerücht, Gross habe sich aus eigener Machtvollkommenheit eigenmächtig zum Judenältesten ernannt. Vielmehr habe er selbst Gross "bei dem Herrn Regierungspräsidenten und den übrigen behördlichen Instanzen auf Ersuchen derselben namhaft gemacht wurde. Der Vorschlag erfolgte durch diese Stelle im Hinblick darauf, dass Herr Gross von allen hier registrierten Angehörigen des Judentums die längste Zeit im Kz.-Lager und insbesondere in den Vernichtungslagern verbracht hat."

"Es gab nur ganz wenige Juden", erinnert sich Fritz Gross, "wenn überhaupt, dann kamen wir in Hannover zusammen. Dort gab es eine provisorische Synagoge. Zu den Feiertagen sind wir dahin gefahren." Anfang 1947 gehörten der Jüdischen Gemeinde in Hildesheim 31 Mitglieder an, Anfang 1952 noch 22 und 1956 nur noch 17.

Auch politisch motivierte Treffen fanden bei Siegfried Gross statt. Sein Sohn Fritz, der bis 1957 in Hildesheim wohnte, erinnert sich an Hinrich-Wilhelm Kopf, Hannoverscher Regierungs- und ab Ende 1946 niedersächsischer Ministerpräsident, August Groel, Leiter der Antifa, Paul Urban, ein Kommunist, ehemaliger KZler und Mitglied des ernannten Hildesheimer Rates. Weitere Freunde waren Kriminalpolizeirat Leo Iwanetzki, 1949 Leiter des Kriminalpolizeiamts Hildesheim, und Walter 'Peter' Gorny, der als 'Verwaltungsdirektor zur Wiederverwendung' (Stadtkämmerer) zusammen mit seiner Dienststelle, dem Landesausgleichsamt, am 1. September 1952 in das Vertriebenenministerium eingegliedert und dort als Referent des Referats LA 4 Oberregierungsrat (1953) und Regierungsdirektor (1957) wurde. Sicher traf er sich auch mit Mitgliedern der schon 1945 gegründeten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), der Siegfried Gross zusammen mit 28 weiteren Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten des Ortsvereins Hildesheim angehörte. In einer anderen Aufstellung ist er eines von 35 Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten.

Siegfried Gross war Mitglied des ernannten Bezirkslandtags, der auf Anweisung der Militärregierung Anfang 1946 gebildet werden musste. Ihn nominierte Regierungspräsident Julius Hange als "Vertreter der religiösen Interessen … für die jüdische Religion" selbst. Für die anderen Mitglieder waren die Landräte und Oberbürgermeister des Regierungsbezirks Hildesheim vorschlagsberechtigt.

Gross wurde in den Finanzausschuss und in den Ausschuss für Sport und Leibesübungen gewählt, doch seine Mitgliedschaft war schon nach wenigen Montan zu Ende. Wie bereits vor 1939 in Katowice, saß Gross nun auch nach 1945 in Hildesheim zwischen den Stühlen. Am 15. März 1946 wurde der Bezirkslandtag eröffnet, am 24. Oktober 1946 entzog die britische Militärregierung Gross das Mandat, weil er nach § 19 der (1935 von den Nazis eingeführten) Deutschen Gemeindeordnung nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft war.

Er selbst gab später im Entschädigungsantrag für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 25. Januar 1954 als frühere Staatsangehörigkeit österreichisch/polnisch, als jetzige "ungeklärt" an. Gross verstand sich allerdings als Deutscher und kämpfte um die offizielle Anerkennung dieses Anspruchs. Neun Jahre nach seinem Eintreffen in Hildesheim, am 3. April 1954, erhielt er die Einbürgerungsurkunde, ausgestellt auf den Kaufmann Selig Gross (Gebühr: 100 DM). Am 7. April 1954 ließ er den jüdischen Namen Selig in den bürgerlichen Namen Siegfried umwandeln (Gebühr: 20 DM). Im polizeilichen Führungszeugnis vom 16. September 1957 stand allerdings immer noch "polnisch".

Kaum im Amt als Bezirkslandtagsabgeordneter, setzte er sich "im Auftrag der Israelitischen Gemeinde" beim Regierungspräsidenten für die jüdischen Interessen ein: Er bat darum, "dafür Sorge zu tragen, dass die 15 bei der Bombardierung von Hildesheim ums Leben gekommenen jüdischen KZ-Häftlinge würdig beerdigt würden." Der Verbleib der 15 Toten sollte festgestellt und die Überführung auf den jüdischen Friedhof veranlasst werden. Gleichzeitig sollte der Friedhof instandgesetzt werden.

Der Stadtdirektor berichtete dem Regierungspräsidenten und per Abschrift auch Siegfried Gross. Neun der zu Aufräumungsarbeiten herangezogenen jüdischen Häftlinge seien ohne Mitwirkung der Friedhofsverwaltung durch deren Wachmannschaften auf dem jüdischen Friedhof, Peiner Straße, bestattet worden. Sie seien vor dem 22. März in ihrer Unterkunft gestorben. Siegfried Gross sorgte dafür, dass sie in einzelnen Gräbern nebeneinander bestattet wurden und setzte ihnen persönlich ein Grabmal. Es wurde am 14. September 1947 enthüllt – nicht im Juni 1946 – , an dem Tag, an dem in ganz Deutschland der Gedenktag für die Opfer des Nazismus begangen wurde.

Obwohl die Denkmalsstiftung ausweislich der Ratsprotokolle von der Stadt ausging, war die Enthüllung des Mahnmals für die am 9. November 1938 zerstörte Synagoge am 22. Februar 1948 weitestgehend eine jüdische Angelegenheit. Die Jüdische Gemeinde versandte die Einladungen. Es sprachen überwiegend jüdische Repräsentanten. Vertreter von sieben neu gegründeten norddeutschen Jüdischen Gemeinden nahmen teil, dazu Vertreter der Regierung, der Stadt, der christlichen Kirchen und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Siegfried Gross begrüßte als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hildesheim und sprach unmittelbar vor Oberrabbiner Dr. Hermann Helfgott (später: Zvi Asaria). Regierungspräsident Wilhelm Backhaus betonte in seiner Gedenkrede, dass Hildesheim die erste Stadt sei, die "im Gedenken an eine aus verbrecherisch-politischer Absicht von verruchten Händen angezündete religiöse Kultstätte ihren jüdischen Mitbürgern ein Mahnmal errichtet hat".

Nachdem Siegfried erfahren hatte, dass seine Frau umgekommen war, heirateten sie. Die standesamtliche Eheschließung erfolgte dann am 6. Mai 1949 in Hildesheim, kurz nachdem Felizia und Fritz am 22. April 1949 standesamtlich geheiratet hatten.

Am 19. November 1959 zogen Bronka und Siegfried Gross nach Bad Nauheim um. Vom 6. Juli 1962 betrieb er dort bis zum 15. März 1966 ein Geschäft – Gold, Schmuck und optische Geräte – ohne weitere Angestellte. Sein Sohn belieferte ihn mit Geräten, die er aus Japan importierte, zum Beispiel mit Ferngläsern. Bronka starb am 11. Oktober 1971 in Bad Nauheim.

Siegfried Gross hatte sich in Hildesheim eine Existenz als Kaufmann aufgebaut. Seine Firma entstand auf dem Grundstück Ostertor 11. Am 1. Januar 1949 wurde sie eine offene Handelsgesellschaft 'Siegfried Groß & Co., o. H. G. Wein- und Spirituosen-Großhandel, Hildesheim', der als persönlich haftende Gesellschafter außer Siegfried Groß sein Cousin, Kaufmann Siegmund Lehrer und sein Sohn, Kaufmann Fritz Groß, sämtlich in Hildesheim, angehörten. Filialen entstanden in der Bahnhofsallee 19 (in den Adressbüchern 1951 und 1953 19a) und am Bahnhofsplatz 9, sowie in Alfeld, Hannover, Peine und Braunschweig. Die Industrie- und Handelskammer für Südhannover, Hildesheim, lobte die Firma als "gut geführtes Unternehmen, das zu den führenden Fachgeschäften des Hildesheimer Gebietes zählt." 1955 trat Hanna Brat, geb. Oltmanns, als persönlich haftende Gesellschafterin in die Gesellschaft ein, aus der sie 1957 zusammen mit Fritz Gross ausschied. Ebenfalls 1955 gründete Fritz Gross mit vier Kommanditisten die 'Fritz Gross KG', Hildesheim (Ostertor 3), Kommanditgesellschaft seit 01.Juli 1955. Die Firma wurde 1957 an den Kaufmann Bernhard Kerstiens in Münster verkauft und anschließend nach Braunschweig verlegt. Fritz Gross ging nach Frankfurt, wo er eine neue Marktentwicklung als Chance entdeckte: Er wurde Alleinimporteur für Nikon-Kameras in ganz Deutschland. Siegfried Gross gab den Wein- und Spirituosen-Großhandel im April 1959 auf.

Nach dem Tod von Bronka zog Siegfried Gross nach Bad Kreuznach, wo er am 20. Juni 1972 seine Krankenpflegerin Gertrude Scholl heiratete.

Am 1. August 1973 zogen sie nach Wiesbaden-Klarenthal um, wo Siegfried Gross am 24. März 1977 und Gertrude am 26. Juli 2004 starben.

Fritz Gross ließ seinen Vater auf dem jüdischen Friedhof in Frankfurt bestatten. "Ich wohnte in Frankfurt, er hatte Freunde in Frankfurt, und weil ich dort wohnte, habe ich das veranlasst."